H. Meyer u.a.: Mission und Diakonie

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Titel
Mission und Diakonie. Die Geschichte der Evangelischen Gesellschaft des Kantons Zürich


Autor(en)
Meyer, Helmut; Bernhard, Schneider
Reihe
Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich 78
Erschienen
Zürich 2011: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
S. 226
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Thomas K. Kuhn, Efringen-Kirchen

Im 19. Jahrhundert, dem so genannten Jahrhundert der Vereine, formierten sich die unterschiedlichen kirchlichen Richtungen in bis dahin unbekannter Weise in Gesellschaften und Vereinen. An die aufklärerischen Sozietäten des 18. Jahrhunderts anknüpfend verbanden sich nun theologisch und religionspraktisch differente Strömungen zu agilen Zweckgemeinschaften, um neben «gewöhnlicher » kirchlicher Praxis gemeinsam spezifische Anliegen zu verwirklichen. Waren es im 18. Jahrhundert häufig patriotisch gesinnte Vereinigungen, wie etwa die Helvetische Gesellschaft gewesen, so organisierten sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und dann vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunächst solche religiösen Richtungen in Gruppen, die den so genannten Erweckungsbewegungen angehörten und pietistische wie aufklärerische Traditionen aufnehmend, sich sowohl in praktischer wie theoretischer Hinsicht einer Neuformulierung vornehmlich des evangelischen Christentums verschrieben. Diese sich lokal und inhaltlich durchaus unterscheidenden internationalen religiösen Erneuerungsbewegungen verband zentral der Wille, in Zeiten widerstreitender ideologischer Deutungs- und Sinngebungssysteme dem Christentum in individueller wie gesellschaftlicher Hinsicht wieder mehr Plausibilität und Geltung zu verschaffen. In Reaktion auf die vorwiegend als religionsfeindlich denunzierte Aufklärung ging es den Erweckten, die zuweilen selbst Kinder der Aufklärung waren, um nichts weniger als um die Überwindung der Aufklärung und um eine Rechristianisierung der Gesellschaft. Oder um den alten Begriff zu verwenden, man zielte auf «Innere Mission». Sie setzte – häufig getragen von einer akuten und dynamischen Reich-Gottes-Erwartung – mannigfache missionarische und evangelisatorische Initiativen mit der erklärten Absicht frei, die einzelnen Menschen sowie die Gesellschaft zu einem spezifisch verstandenen Christentum zu führen. Die in diesem Zusammenhang entstandenen pädagogischen, missionarischen und diakonischen Einrichtungen, die schon von den Zeitgenossen als «Reich-Gottes- Werke» bezeichnet werden konnten, etablierten zweifelsohne neue Formen von Religiosität und führten zu einer massiven Ausdifferenzierung respektive Pluralisierung des Christentums. Damit einher gingen häufig Konzentrationen und Elementarisierungen der christlichen Lehrinhalte.

In der Schweiz war Basel als Sitz der Deutschen Christentumsgesellschaft, einer zentralen Einrichtung der Erweckungsbewegung, das unumstrittene Zentrum dieser Bewegung, die von dort aus international agierte. Aufgrund ihrer Bedeutung unter den Erweckten erhielt die Stadt auch den Beinamen das «Fromme Basel»: Dieser konnte allerdings auch von Seiten der theologischen Gegner voller Spott verwendet werden. Doch auch in Bern und Zürich sowie in anderen Orten der Schweiz sammelten sich zunächst «Fromme» und später auch Vertreter anderer christlicher Richtungen in Vereinen, wie etwa der theologische Freisinn.

In Zürich entstand gegen Ende der 1830er Jahre die Zürcher Evangelische Gesellschaft. Ihre Gründung ist im Wesentlichen eine Reaktion auf liberalisierende Tendenzen in Zürich, die schliesslich in die Berufung des Tübinger Theologen David Friedrich Strauß an die Zürcher Universität mündeten und den so genannten Zürich-Putsch 1839 auslösten. Ob man allerdings in diesem Zusammenhang – wie es die Verfasser der zu besprechenden Schrift tun – von Zürich als einem «laizistischen Staat» (29) sprechen kann, scheint mir historisch nicht angemessen zu sein.

Der vorliegende Band zeichnet die Geschichte der Evangelischen Gesellschaft des Kantons Zürich von den Anfängen bis in die Gegenwart detailliert nach. Der Historiker Helmut Meyer stellt sich dieser Aufgabe in den ersten sieben Kapiteln. Dabei legt er seiner Darstellung archivalische Quellen sowie Interviews zugrunde. Der Publizist Bernhard Schneider führte für den zweiten Teil des Buches (Kapitel 8–13) Interviews mit heute Aktiven in der Evangelischen Gesellschaft. Diese Gespräche bündelte er thematisch und beschreibt neben heutiger Praxis auch das aktuelle Selbstverständnis der Gesellschaft. Die Bilanz (Kap. 14) ist von beiden Autoren verantwortet. Dem ansprechend gestalteten Band sind zahlreiche Abbildungen beigegeben.

Die vorliegende, überaus informative Darstellung der Geschichte der Evangelischen Gesellschaft stellt nicht nur für die Kirchengeschichte Zürichs im engeren Sinne, sondern über die Stadt- und Kantonalgeschichte hinaus einen wichtigen Beitrag dar. Die weitere Erforschung des christlichen Vereinswesens im 19. Jahrhundert bedarf solcher Detailstudien, um zukünftig in komparatistischen Studien zu präziseren Beschreibungen dieses überaus vielfältigen Phänomens neuzeitlicher Religionsproduktivität zu kommen.

Die Lektüre des Bandes lohnt zweifelsohne. Denn dabei wird ersichtlich, in welcher Breite und Vielschichtigkeit diese Gesellschaft in Zürich tätig war. Sie verschrieb sich wie andere vergleichbare Institutionen der Aufgaben der Mission, der Diakonie und der Bildungsarbeit. Auch das Beispiel der Zürcher Gesellschaft zeigt anschaulich, wie wichtig diese frommen Vereinigungen bei der Suche nach Antworten auf die so genannte Soziale Frage waren, auch wenn ihre Antworten nicht immer überzeugen konnten. In der Geschichte der Diakonie stellen sie jedenfalls wichtige Etappen dar.

Bei aller Wertschätzung des verdienstvollen Bandes, der einer traditionellen Geschichtsschreibung verpflichtet ist und neuere methodische Ansätze ausblendet, ist abschliessend noch anzumerken, dass dieser Publikation an manchen Stellen eine grössere kritische Distanz sowie eine präzisere Begrifflichkeit gut angestanden hätte. Die inhaltlich so voluminösen, aber auch unscharfen historischen Begriffe wie «Pietismus» und «Aufklärung» hätten zudem mehr historiographische Aufmerksamkeit verdient. Insbesondere die geistesgeschichtlichen Beschreibungen geraten gelegentlich etwas zu holzschnittartig und lassen vornehmlich der Aufklärung zu wenig Gerechtigkeit widerfahren. Schliesslich fehlen eine ausreichend breite Rezeption der Fachliteratur sowie stringentere historiographische respektive methodische Überlegungen.

Zitierweise:
Thomas K. Kuhn: Rezension zu: Helmut Meyer/Bernhard Schneider, Mission und Diakonie. Die Geschichte der Evangelischen Gesellschaft des Kantons Zürich, Chronos Verlag, Zürich 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 706-707.

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